Übersetzungen

von Otto und Eva Schönberger

Anmerkungen


Überschrift

Die Überschrift des Aldina-Textes lautet: „Galens, des Paraphrasten des Menodotos, Mahnrede zum <Studium der> Künste.“ Menodotos war zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. das Haupt der empirischen Ärzteschule in Alexandreia und wurde von Galenos mehrfach bekämpft (auch in Schriften, die Galenos dem Kaiser Severus widmete). Der Plural „Künste“ im Titel bezieht sich darauf, dass im erhaltenen Teil der Schrift erst allgemein zum Studium der Künste aufgerufen wird und im zweiten <verlorenen> Hauptteil zum Medizinstudium. Das Wort Paraphrast bedeutet hier wohl, dass Galenos eine kritische Auseinandersetzung (Kommentierung?) zu Schriften des Menodotos gibt (etwa wie der Autor des Werks „Vom Erhabenen“ eine Schrift des Caecilius von Kalakte kritisch kommentiert), also sozusagen eine „Gegenschrift“ (wohl gegen Überschätzung der Athletik).

Kapitel I

Galen wirbt für die Einübung in die Künste, besonders in die Heilkunst. Grundlage ist die Natur des Menschen, die durch Vernunft ausgezeichnet und über alles andere erhoben ist. Daher soll man seine geistigen Anlagen pflegen, den Leib jedoch, der uns mit den Tieren gemeinsam ist (vgl. Firmic. Matern. 8 praef.), nicht übertrieben beachten. Galen lehrt, dass auch die Tiere in beschränkter Weise am Logos teilhaben, doch besitzen sie nicht (wie der Mensch; vgl. Quintilian 2,16,11 f.) die Gaben von Vernunft und Sprache und können auch keine Kunst erlernen. Der Mensch hingegen eignet sich zwar einige der Kunstfertigkeiten der Tiere an, doch steigt er auch zu göttlichen Künsten empor (nach Platon, Theaitetos 173 E), ja, er gewinnt sogar die göttliche Philosophie und wird dadurch (nach stoischer Lehre) den Göttern verwandt (vgl. schon Platon, Timaios 47 B). – Zum Text vgl. Vahlen, Joh., Varia. In: Hermes 30, 1895, 361.

Kapitel II

Übergang zum eigentlichen Thema: Der Mensch soll entsprechend seiner gottmenschlichen Natur den besseren Teil seines Wesens ausbilden, und zwar durch Studium der Künste (Technai), besonders aber der Heilkunst. An gegensätzlichen Beispielen (Synkrisis) führt Galen, wie es in der griechischen Popularphilosophie gebräuchlich war, Wege zum Ziel und Irrwege vor. Tyche (mit Kugel und Steuerruder) ist Repräsentantin des wirren, gottlosen und blinden Weltlaufes. Sie herrscht mit Willkür, mißachtet die Guten und treibt ein grausames Spiel mit der Menge ihrer Anhänger, die sich später über sie beklagen. Galen schildert auch die vielfachen künstlerischen Nachbildungen der Tyche (Parallele im Pinax, „Tafel“ des Kebes).

Kapitel III

Gegenbild zur Tyche ist Hermes, der schon seit Hesiod (Erga 77) als „Spender der Sprache“ für die Menschen galt. Er ist bewandert in jeglicher Kunst und ist auch deren Vermittler. Seine äußere Schönheit spiegelt den inneren Wert wieder. Die Häufung von Vorzügen bei Hermes könnte auf stoische Vorbilder hinweisen.

Kapitel IV

Die Gefolgsleute der beiden Mächte entsprechen im Wesen ihren Anführern: Auf der einen Seite irregeleitete, haltlose Subjekte, auf der anderen gefestigte, ausgeglichene Charaktere. Begleiter der Tyche sind König Kroisos von Lydien (um 561–546). Er besaß sprichwörtlichen Reichtum, unterlag jedoch dem Perser Kyros (um 558–529; vgl. Herodot 1,86). – Polykrates von Samos herrschte als Tyrann (um 537–522), war von großem Glück begleitet („Ring des Polykrates“), wurde jedoch von den Persern getötet. – Der Paktolos-Fluß in Lydien galt zeitweise als goldreich; vielfach wurden aus seinem Gold Münzen geschlagen. – Der Perserkönig Kyros (s.o.) starb bei einem Eroberungszug gegen die Massageten (im Norden des Perserreiches). – König Priamos von Troia starb bei der Eroberung der Stadt durch die Griechen. – Dionysios der Jüngere, Tyrann von Syrakus (367–344), herrschte nach der Ermordung Dions grausam, wurde von den Bürgern vertrieben und lebte noch lange als Verbannter in Korinth. – Das weitere Gefolge der Tyche besteht aus Gesetzlosen, ja Verbrechern.

Kapitel V

Die Anhänger des Hermes hingegen sind gesittet und beruflich gebildet. Der Gott ist um sie besorgt; sie wirken gleichsam als dessen Diener und genießen hohe Verehrung. Selbst schwere Schläge des Schicksals können wissenschaftlich Gebildete nicht zugrunde richten, wie die (weit verbreitete) Erzählung über Aristippos beweist. Aristippos aus Kyrene (um 435–360), Schüler des Sokrates, führte ein Wanderleben, lehrte gegen Geld und begründete die Philosophenschule der Hedonisten (Lust als höchstes Gut). Hier tritt er als Muster eines wahren Gebildeten auf.

Kapitel VI

Im folgenden werden als Gegenstück drei „Gaben“ der Tyche besprochen; es sind äußerliche Güter: Reichtum, Adel und Schönheit (Kapitel 6, 7, 8. – Schon Aristoteles hatte in seinem Protreptikos den Unwert der äußeren Güter betont).

Zuerst (in 6) beweist Galen, wie töricht jene sind, die nur auf Reichtum sehen, nicht jedoch begreifen, dass sie selbst sogar bei unvernünftigen Tieren jene vorziehen, die sozusagen „ausgebildet“ sind. Dies wird mit zwei Aussprüchen untermauert. Diogenes nannte (wie auch andere) die Reichen „Schafe mit goldenem Fell“. Antisthenes war ein Schüler des Sokrates und Verfechter von Bedürfnislosigkeit und Unabhängigkeit von Vorurteilen; er begründete die Kynikersekte. Er verglich (in kynischer Weise) die Reichen mit Feigenbäumen am Abgrund und verurteilte ihre Schmeichler (kolakes) als Raben (korakes) und Undankbare. Und wenn Tyche ihre Gaben von den Reichen zurückholt, fallen diese dem Elend anheim. Galen scheint scheint hier kynisch-stoischen Quellen zu folgen.

Kapitel VII

Das zweite, trügerische äußere Gut ist Adelsstolz, der nicht auf eigener Leistung beruht. Ein Dummkopf, der auf seinen Adel pocht, blamiert sich erst recht. Ein Verständiger dagegen lernt eine Kunst, die ihn seines Adels würdig erscheinen lässt. Beispiele persönlich begründeten Ruhms sind Themistokles und Anacharsis. Dieser war im 6. Jahrhundert v. Chr. ein Skythe aus fürstlicher Sippe, der Griechenland besuchte, um gute Sitten in der Heimat einzuführen (Herodot 4,46). Den späteren Kynikern erschien er als Idealfigur unverdorbener Natur und wurde zu den Sieben Weisen gezählt. Man fälschte auch Briefe auf seinen Namen.

Andererseits bringen große Männer der Stadt ihrer Herkunft Ruhm, z.B. Aristoteles dem Ort Stagira oder der Stoiker Chrysippos der Stadt Soloi in Kilikien, ebenso Aratos von Soloi (315–239), der ein berühmtes Lehrgedicht über Astronomie verfaßte. Hyperbolos und Kleon hingegen profitierten von Athens Ruhm für ihren „Bekanntheitsgrad“. Beide waren Demagogen. Hyperbolos vertrat nach Kleons Tod in Athen die Kriegspolitik gegen Nikias (der 421 Frieden mit Sparta schloß); er wurde 411 ermordet.

Kapitel VIII

Das dritte trügerische äußere Gut ist die Schönheit, wie nach einem unklaren Übergang gesagt wird (es ist auch unklar, an welcher Stelle seiner Werke oder Gesetze Solon über die Fürsorgepflicht von Eltern und Kindern sprach; vgl. Plutarch, Solon 22). Die Nachricht über die Verpflichtung zur Ausbildung der Kinder könnte kynisch-stoischer Literatur entnommen sein. Schönheit kann, besonders in der Jugend, zur Vernachlässigung innerer Werte führen. Man soll doch bedenken, wie kurz die Zeit der Schönheit ist und wie rasch das Alter herannaht, für das man vorsorgen muss. Zur Schönheit muss innere Bildung und äußere (Berufs-) Ausbildung treten; ohne diese verfehlt man das Leben. Eine Anekdote über Diogenes erläutert die Mahnung durch eine Erzählung, die kynischer Philosophie entstammt (vgl. Diogenes Laert. 6,32). So entspricht die Schilderung des reichen Palastes Zügen der kynisch-stoischen Diatribe. Damit ist der erste Teil der Schrift (Kapitel I–VIII) abgeschlossen, in dem bewiesen ist, dass erst die Ausbildung in einer Kunst oder Wissenschaft das Wesen eines Menschen ausmacht.

Kapitel IX

Nach einem wiederum nicht klaren Übergang wird im zweiten Teil bewiesen, dass die bloße Ausbildung des Körpers, besonders bei den Athleten, dem Wesen und der Würde des Menschen zuwiderläuft. Die Ausbildung in einer Kunst oder Wissenschaft will wohl erwogen sein. Nur Künste, die dem Leben dienen, soll man <nach stoischer Lehre> lernen, nicht jedoch Schwindelkünste, wie z.B. Seiltanzen oder die Herstellung von klein(st)en Dingen, wie sie Myrmekides und Kallikrates trieben, die – wohl in früher Zeit – u. a. winzige Ameisen aus Elfenbein herstellten oder ein Sesamkorn mit einem Distichon beschrieben. Die Einteilung der Künste in solche, die dem Geist nützen, und solche, die wenig(er) wertvoll sind, übernahm Galen vielleicht von Poseidonios (vgl. Seneca, Epist 88).

Dann leitet Galen zu einem Angriff auf die verführerischen Vorteile und Methoden der Athletik über, wobei festzuhalten ist, dass nicht etwa die Gymnastik im allgemeinen gescholten wird (vgl. Platon, Staat 410 B). Tadel an der einseitigen Pflege der Körperkraft war allerdings, besonders seit Xenophanes (Frg. 2) und Euripides (Frg. 282), ein geläufiges literarisches Thema, auch bei den Stoikern (wohl auch bei Poseidonios; Kaibel 44 f.).

Galen geht nochmals von seiner Eingangsthese aus, dass der Mensch seinen göttlichen Anteil ausbilden muß. Selbst erfolgreiche körperliche Ausbildung macht uns noch nicht den Tieren überlegen, denn diese sind vielfach stärker und schneller als wir (vgl. Phaedrus, Append. Perott. 3). Preis und Ruhm gebühren nur Männern, die der Menschheit durch Kunst und Wissenschaft nützten, etwa Asklepios oder Dionysos. Nicht ohne guten Grund bezeichnete auch der Gott in Delphi Sokrates als den weisesten aller Menschen.

Kapitel X

Das ganze Kapitel X führt Zeugnisse und Zitate aus der Literatur über Athleten an, besonders aus Euripides und Hippokrates. In wichtigen Fragen folgt man eben nicht dem Urteil der Menge, sondern der Ansicht wirklicher Fachleute.

Eine bekannte Anekdote über die natürlich schöne (reiche und geistreiche) Hetäre Phryne (4. Jahrhundert v. Chr.) dient zur Bestätigung der Richtigkeit fachgemäßer, ungeschminkter Urteile (etwa über den Athletenberuf). Die Wurzel der Rotwurz (Färberochsenzunge) enthält einen purpurfarbenen Stoff, der in der Antike als Schminke diente. Seetang (Lakmusflechte) lieferte starken Purpurfarbstoff. Auch Bleiweiß, aus Blei und Essig hergestellt, diente als Schminkmittel.

Kapitel XI

Zuerst wird zusammenfassend festgestellt, dass Athleten an den Gütern der Seele keinen Anteil haben. Doch können sie vielleicht auf ein körperliches Gut Anspruch erheben, auf die Gesundheit? Dass dies nicht zutrifft, wird nun besonders mit Zitaten des berühmten Arztes und Fachmannes Hippokrates bewiesen, wobei die übliche Lebensführung der Athleten jeweils mit Aussagen des Hippokrates verglichen und an diesen gemessen wird. Vergleiche unmäßig Lebender mit Schweinen kennt man zumindest seit Platon (Politeia 535 E). Solche Lebensweise kann zur Krätze führen, gegen die Einreiben mit Oleanderblättern (in Öl gekocht) angeraten wurde (vgl. den Tierarzt Vegetius, 4. Jhdt. n. Chr., Ars veterin. 3,71). Also besitzen Athleten nicht das körperliche Gut der Gesundheit. Im Alter sehen sie aus wie die „Bitten“ (Litai) bei Homer, Töchter des Zeus und Schwestern des Schicksalsdämons Ate. – Am Ende des Kapitels ein Wortspiel: Athlet (Wettkämpfer) und Athlon (Elend) haben den gleichen Wortstamm.

Kapitel XII

Ebenso wenig wie auf Gesundheit können die Wettkämpfer Anspruch auf körperliche Schönheit machen. Sie werden im Lauf der Zeit fett, entstellt und verrenkt.

Kapitel XIII

Können die Athleten im praktischen Leben Körperkräfte vorweisen? Sie sind zwar stark, doch nützt ihre Kraft zu nichts, und zudem halten sie nichts aus. Selbst das Beispiel des berühmten Milon beweist nur, dass er kräftig, aber dumm-anmaßend war.

Milon von Kroton war angeblich ein Schüler des Pythagoras (6. Jahrhundert v. Chr.) und bekannt durch seine sagenhafte Körperkraft, der seine Nahrungsmenge (8 Kilo Fleisch, 9 Liter Wein am Tag) entsprach. Er war vielfacher Sieger bei fast allen griechischen Wettspielen. Die Geschichte seines Endes beweist, wie töricht er war. Gegenstück ist Themistokles (Archon 493 v. Chr.) aus Athen, der die Heimatstadt zum Bau einer Flotte antrieb und mit dieser bei Salamis siegen half.

So leisten Athleten nichts im praktischen Leben, doch ist auch ihr Übungsziel, die Körperkraft, nur von geringem Wert. Auch dafür bringt Galen den Beweis in der Geschichte eines „nicht unbegabten Mannes“. Die Erzählung war in (kaum wiederherstellbaren) Versen verfaßt, und der Dichter könnte ein näherer, kynisch angehauchter Zeitgenosse Galens gewesen sein. Manche Tiere, heißt es, können den Menschen an Kraft übertreffen. So werden Hasen im Stadion-Lauf (rund 190 Meter) gewinnen, im Doppel-Lauf (rund 400 Meter) die Gazelle, im Langlauf das Pferd. Selbst ein Doppel-Sieger wird von Tieren übertroffen, ein „Nachfolger des Herakles“, denn so nannte man Athleten, die – wie dieser – zwei Preise (im Ringkampf und im Allkampf) zugleich errangen. Sogar im Ausschlagen mit den Füßen gab es einen Sieger, den Esel (hier ist der Text hoffnungslos verdorben). Also besitzen die Athleten nicht wahrhaft überlegene Kräfte.

Kapitel XIV

Die letzten Argumente für die Lebensform der Athleten sind vielleicht Leibeslust und Gelderwerb. Doch ist bei ihnen die Lust gering, weil sie sich Speisen hineinzwingen, andauernd trainieren müssen und am Lebensabend gebrechlich sind. Auch mit dem Vermögenserwerb ist es nicht weit her; kaum ein Athlet ist reicher als ein Vermögenverwalter. Zudem ist Reichtum ein vergängliches, gefährdetes Gut.

Dann wird die Summe gezogen: Man muss einen ehrenhaften Beruf wählen, der Dauer hat. In stoischer Weise werden dabei Berufe unterschieden, die auf Verstand beruhen, und andere, die bloßes Handwerk (banausisch) sind, eine Einschätzung, die uns (zumindest seit Luther) vielfach fremd ist. Galen nennt die Berufe der ersten Art mit Namen und fügt ihnen Bildhauerei und Malerei hinzu. Der Protreptikos ist damit am Ziel seiner hinführenden und rahmenden Einleitung angelangt und rät als das beste Studium die Medizin an.