von Otto und Eva Schönberger
Es mag weit in die Urzeit zurückreichen, daß Menschen versuchten, aus Haltung und Mienen eines Gegenübers zu erkunden, „wes Geistes Kind“ der andere sei. Unter Umständen hing von richtiger Erkenntnis das Leben ab. Damals wirkten wohl Instinkt und Verstand in gleicher Weise zusammen; später versuchte man vielleicht, abstrahierend Regeln für solche Erkenntnis abzuziehen, doch wird man bald gemerkt haben, wie wenig in solchem Fall Regeln helfen, und wie sehr man sich im Äußeren eines Menschen täuschen kann.
Das erste (?) literarische Beispiel des Versuches, die Identität von Charakter und Erscheinungsbild vorzuführen, bietet Homer, der in der Gestalt des Thersites sowohl niederes Wesen wie auch abstoßendes Äußere zusammen schildert. Weitere Beispiele von Wesenseindruck, Wesenszeichnung und Deutung bietet bei den Griechen vielfach die philosophische und medizinische Literatur (vgl. die Prolegomena im 1. Band der Scriptores Physiognomici von Förster, S. VII f. und besonders LXX f.). Aber auch die sonstige Literatur bietet physiognomische Ansätze, etwa Schilderungen von Charakteren bei Dramatikern und Historikern oder Charakteristiken von Völkern und Stämmen bei Geographen usw. (vgl. die Sylloge locorum physiognomicorum im 2. Band der Ausgabe von Förster, 233 – 351, und E, Rohde, Der griechische Roman, Leipzig, 1914, 161 f. über dichterische Beschreibung von Personen).
Eine Theorie der Physiognomik ist erst aus dem 1./2. Jahrhundert n. Chr. erhalten, die peripatetische Schrift „Über Physiognomik“ des Pseudo-Aristoteles (nachdem Aristoteles selbst schon über Physiognomik geschrieben hatte). Die Schrift ist klug (manchmal schematisch) aufgebaut und bietet in klarer Gedankenführung und deutlicher Sprache ein – freilich kritisch zu sehendes - System der Physiognomik, das auf genauen, oft eindrucksvollen Beobachtungen und Beschreibungen von Kennzeichen fußt. E4rfreulich ist die Art, wie der Verfasser vor allzu raschen Schlüssen und Zuordnungen warnt und das Wissen um die mögliche Doppeldeutigkeit von Phänomenen wachhält. Eine gute Zusammenfassung beschließt das Werk.
Auf der pseudo-aristotelischen Physiognomik (u. a.) fußt sodann die Schrift „Über Physiognomik“ des Antonios Polemon, der vieles erweitert und ausführt, besonders durch lebendige Schilderungen eigener Erlebnisse (z. B. vermutlich eine boshafte Charakteristik des Philosophen und Redners Favorinus von Arelate (S. 160 F).
Antonios Polemon stammte aus Laodikeia und lebte im 1./2. Jahrhundert n. Chr. Er wurde ein erfolgreicher Schriftsteller und Redner der sogenannten Zweiten Sophistik, besaß die Gunst des Kaisers Hadrian und war auch politisch tätig. Erhalten sind von ihm zwei Deklamationen (in asianischem Stil); sein Geschichtswerk ist verloren.
Doch hat sich von seinem Werk zur Physiognomik eine griechische Paraphrase erhalten, die von Adamantios erstellt wurde. Adamantios von Alexandreia war ein griechischer Arzt im 4. Jahrhundert n. Chr. Er verfaßte eine griechische (z. T. wörtliche) Paraphrase (besser: Epitome) des Werkes von Polemon. Adamantios ließ alle bei Polemon ausgeführten Beispiel-Schilderungen weg, ebenso (gegen Ende) die Beschreibungen von bestimmten Arten der Menschen. Dabei versuchte er, einen möglichst eleganten Stil zu schreiben (Ausgabe in den Scriptores Physiognomici Graeci et Latini von R. Förster, I 297 – 426). Sein Werk dient öfter dazu, Stellen der arabischen Übersetzung des Polemon zu verstehen oder zu berichtigen.
Das (ebenfalls nicht gesamte) physiognomische Werk von Polemon ist nämlich nur ein einer arabischen Übersetzung erhalten (weitere lateinische Quellen bei Förster II), die bei Förster I 98 f. abgedruckt ist. Diesen arabischen Text übertrug der bedeutende Orientalist Johann Georg Hoffmann (1845 – 1933), ein Schüler von Paul de Lagarde, im Jahr 1887 ins Lateinische, und diese lateinische Version liegt unserer deutschen Übersetzung zugrunde. Man kann sich vorstellen, wie viel vom ursprünglichen Werk (nach drei Übersetzungen) nun noch vorhanden ist. Unsere Übersetzung will ausdrücklich nur als Hilfsmittel zum Verständnis der lateinischen Übersetzung Hoffmanns dienen, die an nicht wenigen Stellen nur schwer zu verstehen ist. Daß nun alles richtig dasteht, wagen wir nicht zu hoffen.
Verwiesen sei noch auf folgendes Werk: Seeing the Face, Seiing the Soul. Polemon`s Physiognomy from Classical Antiquity to Medieval Islam, ed. By Simon Swain, Oxford 2007 (nicht zugänglich).
Unser Antrieb zur deutschen Übersetzung des Polemon entstand aus einer höchst anregenden Stelle in: U. von Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische Literatur des Altertums, Berlin 1907 (2. Aufl.), 180. „Gern würde man neben Artemidor das Handbuch einer anderen sehr problematischen Wissenschaft, die Physiognomik des Polemon von Laodikeia, stellen, die nur in lateinischer und arabischer Bearbeitung erhalten ist. Denn dieser Sophist, dessen Deklamationen an Absurdität kaum zu übertreffen sind, hat hier wirklich, einerlei, wieviel er überliefert bekam, nicht nur sehr scharfe individuelle Beobachtungen, zuweilen höchst boshafte, vorgetragen; er erreicht es wirklich, auch ohne Schattenrisse, Physiognomien zu zeigen. Mit etwas Geist und Phantasie behandelt, müßte eine Vergleichung mit Lavater-Goethe höchst anziehend gemacht werden können. Man wundert sich oft, wie die sogenannte römische Kunst (d.h. die griechische Kunst dieser Zeit, denn Griechen sind die Künstler) im Porträt und gerade dem realistischen so Vorzügliches leistet. Polemon, der nicht der einzige war, lehrt diesen Zug in dem Geiste der Zeit verstehen. Die Menschen waren ja so eitel; sie taten wohl, als wären sie Zeitgenossen der Klassiker, aber von der klassischen Gesinnung, die sich mit einem anikonischen Porträt begnügte, waren sie weit entfernt.“